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Selbstgewählte Dummheit (Die Welt, 19.12.2009, Autor: Juli Zeh)


Wer keine Zeit hat, ein Buch zu lesen, während es für die tägliche Stunde Fitnesscenter reicht, der darf sich nicht über den Mangel an Bildung wundern, klagt Juli Zeh Deutsche Kinder haben Schwierigkeiten mit dem Lesen. In Schulbüchern erscheinen vereinfachte Fassungen bekannter Texte, weil Astrid Lindgren für einen durchschnittlichen Achtjährigen zu hoch ist. Auch die Studenten, die seit Monaten für bessere Studienbedingungen demonstrieren, sind ihres Lesens nicht mehr sicher. Laut einer Untersuchung der Universität Dortmund können nur noch die wenigsten einen komplexen und abstrakten Text durchdringen, weshalb nicht mehr von Lesefaulheit, sondern von "intellektueller Legasthenie" zu sprechen sei. In der Gesamtbevölkerung gelten inzwischen vier Millionen Bundesbürger als funktionale Analphabeten. Sie kennen zwar die Buchstaben, sind aber schon mit dem Lesen eines einfachen Hinweisschilds hoffnungslos überfordert.

Vor diesem Hintergrund ein Zitat von Angela Merkel, nachzulesen, wenn Sie können, in der deutschen "Le monde diplomatique" vom November 2009:

"Stellen Sie sich nur kurz einmal vor, wir würden zehn Jahre lang, vier Stunden in der Woche, genauso viel über unsere Körper lernen wie über die deutsche Sprache und Geschichte. Medizin als Hauptfach - warum eigentlich nicht, meine Damen und Herren, soll das Lesenlernen eine öffentliche Angelegenheit sein, aber das Gesund-leben-Lernen nicht? Warum soll der Körper nur im Sportunterricht vorkommen, warum könnte nicht im Lehrplan stehen, wie man Kopfschmerzen vermeidet, wie man Zuckerkrankheit gar nicht erst entstehen lässt, wie man gesund kocht oder einen Wadenwickel anlegt?"

Ja, zum Teufel, warum eigentlich nicht? Jetzt ganz scharf nachdenken. Vielleicht weil ein Wadenwickel weniger wichtig ist als Sprache und Geschichte? Weil das Vermeiden von Kopfschmerzen im Gegensatz zur Alphabetisierung tatsächlich keine öffentliche Angelegenheit darstellt? Falsch? Falsch. Wer derartige Zweifel hegt, muss in spießigen bildungsbürgerlichen Ideen aus dem vorletzten Jahrhundert gefangen sein. Immerhin ist auch die Schweinegrippe eindeutig wichtiger als der Notstand im deutschen Schul- und Hochschulsystem. Wir leben schließlich nicht in einer Bildungsnation, sondern in einer öffentlichen Krankenstation.

Ein Blick in die Schlagzeilen der letzten Monate beweist das. Während sich Studenten und Schüler gegen die Auswirkungen der Bologna-Umstellung wehren, kämpfen Presse und Politik lautstark gegen H1N1. Die Bundesländer haben 600 Millionen Euro, also einen Betrag, der in etwa dem geschätzten Gesamtaufkommen der Erststudiengebühren im Wintersemester 09/10 entspricht, für einen Impfstoff ausgegeben, der von der Bevölkerung nicht angenommen wird und deshalb zur Kostendeckung ins Ausland verscherbelt werden muss. Bislang hat Deutschland 94 Schweinegrippe-Opfer zu verzeichnen. Auf "normale" Influenza sind, je nach Statistik, 6000 bis 20 000 Todesfälle pro Jahr zurückzuführen.

Angesichts solcher Vergleichszahlen muss man den Schweinegrippen-Hype wohl als gesundheitspolitische Hysterie bezeichnen. Die Schweinebedingungen im Bildungssystem hingegen sind äußerst konkret. Was haben diese beiden Dinge nun miteinander zu tun? Ganz einfach: In einer Demokratie sind politische Entscheidungen auf eine gesamtgesellschaftliche Prioritätensetzung zurückzuführen. Wenn für Bildung auf politischer Ebene notorisch das Geld und auf privater Ebene notorisch die Zeit fehlt, dann stellt dieser Zusammenhang keinen Zufall dar. Im Gegenteil: Er ist ein Ausdruck von wechselseitiger Kausalität. Anders gesagt: Wer keine Zeit hat, ein Buch zu lesen, während es für die tägliche Stunde Fitnesscenter oder Yoga durchaus reicht; wem ein Theaterbesuch zu teuer ist, die neue Anti-Falten-Creme mit dreifachem Wirkstoffkomplex aber nicht; wer politische Demonstrationen sinnlos findet und am Wochenende mit Tausenden von Gleichgesinnten in bunten Wurstpellen durch die Innenstadt joggt - der muss sich nicht wundern, wenn sein Kind in der Schule Lindgren light zu lesen bekommt.

Einst gab es den schönen Satz: "Es kommt auf die inneren Werte an." Gemeint waren nicht die Blut- oder Leberwerte. Stark, schön und gesund sein kann auch ein Tier; lesen und schreiben kann nur der Mensch, vorausgesetzt, man bringt es ihm bei. Homo sapiens definierte sich über seine Vernunft, über Sprachbegabung, Intelligenz, Bewusstsein oder Seele, mithin über geistige Eigenschaften. Selbst die immer wieder aufs Neue missverstandene Mens-sana-in-corpore-sano-Formel begründete die Notwendigkeit von körperlicher Ertüchtigung mit dem Erhalt der Geisteskraft und betrachtete somit das Herumschrauben an der Physis als Mittel zu einem höheren Zweck. Es bereitet mir kaum noch Mühe, diese Sätze in der Vergangenheitsform zu formulieren. Würde man heute jungen Eltern die Frage stellen: "Was hättet ihr lieber, ein schlankes Kind oder ein fettes, das den Dreisatz kann?" - ich würde für die Antwort keine Hand ins Feuer legen.

Wer wissen will, wie es um unsere Präferenzen bestellt ist, muss nur die Gehirnwaschmaschine namens Werbung einschalten. Ob Fernsehen, Radio oder Plakate - gezeigt werden nicht Menschen, die 23 mal 7 im Kopf multiplizieren, "Satellit" buchstabieren oder das deutsche Wahlsystem erklären können. Sondern solche, die jung, schön und leistungsfähig sind, weil sie das Richtige essen, die richtige Kosmetik benutzen und mehr Vitamin-Präparate als Bücher im Schrank haben. Auch der Spam in meinem E-Mail-Postfach bietet keine Goethe-Gesamtausgaben, sondern Schwanzverlängerungen und Diätprogramme an. Es lebe der Körper. Bildung ist unsexy.

Vielleicht erklärt sich in diesem Zusammenhang, warum kein Aufschrei durchs Land ging, als sich ein Kamikaze-Kommando aus europäischen Bildungsministern anschickte, eine unserer schönsten Errungenschaften, nämlich das Universitätssystem Humboldtscher Prägung in eine Karikatur seiner selbst zu verwandeln. Ausgerechnet das deutsche Dichter-und-Denker-Land kämpfte an erster Front für eine Reform, die nicht aus Not stattfand, sondern in der Überzeugung, die Umdeutung von Bildungsanstalten in Ausbildungs-Camps sei eine "zeitgemäße" und damit gute Idee. Die Hauptziele der Reform heißen nicht Wissensvermittlung, Persönlichkeitsbildung und Forschungsfreiheit. Sie heißen Mobilität, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitstauglichkeit.

Die Umstellung von Köpfchen auf Kröpfchen ist ausnahmsweise nicht den allgegenwärtigen Sachzwängen geschuldet. Sie geschieht freiwillig. Dahinter steht ein Paradigmenwechsel, der die geistigen Qualitäten des Menschen von Platz Eins der Werteskala verdrängt und das materiell Messbare über alles setzt. Exit unberechenbares Rätsel Mensch, enter genormte Biomaschine. Dies ist nicht nur eine Folge des Gottesverlustes, der die Menschen zwingt, in Ermangelung eines Unsterblichkeitsversprechens ihr Heil in der Perfektionierung des Körperlich-Diesseitigen zu suchen. Es ist zugleich Ausdruck der umfassenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche, nach deren Gesetzen Zeit niemals mehr als Geld sein kann und kurzfristige Effizienzerwägungen mehr zählen als das längerfristig angelegte humanistische Bildungsideal.

Der ideale Mensch von heute muss funktionieren. Er darf nicht nur nicht krank sein, er muss sich auch sonst stets innerhalb der Norm bewegen. Das Verbot von Abweichungen wird mit Kostenrelevanz begründet. Entgegen dem Gerede von gesellschaftlicher Solidarität lädt jeder Bürger Schuld auf sich, dessen individueller Weg die sogenannte Gemeinschaft teuer zu stehen kommt. Deshalb muss sich ein Student, der länger als acht Semester die Uni besucht, ebenso schämen wie ein dicker Mensch, der als potenzieller Herzpatient eines Tages erhöhte Pflegeleistungen in Anspruch nehmen könnte. So kommt es, dass Juraprofessoren weitgehend ungehört darüber klagen, dass angehende Anwälte nicht mehr in der Lage sind, einen korrekten Satz zu formulieren, während sich Volksbegehren mit Rauchverboten beschäftigen und das Gesundheitsministerium die Hälfte der Bundesbevölkerung für fettleibig erklärt.

In Reaktion auf die Studentenproteste verspricht die Kultusministerkonferenz kleine Nachbesserungen am Bologna-Debakel. Etwas weniger Prüfungen hier, ein bisschen erleichterter Hochschulwechsel da. Aber jeder, der schon einmal eine Tasse zerbrochen hat, weiß, dass man diese nicht reparieren kann, in dem man einzelne Stücke hin und her wendet. Es ist ein altes menschliches Dilemma, dass es Jahrhunderte dauern kann, etwas aufzubauen, während die Zerstörung erstaunlich kurze Zeit in Anspruch nimmt.

Als Dozentin habe ich erlebt, wie sich Studenten, die angetreten waren, ihre intellektuellen Fähigkeiten zu schulen, binnen weniger Wochen zu ferngesteuerten Credit-Fressern entwickelten. Die verbesserte internationale Mobilität wird nicht genutzt, weil niemand mehr Zeit und Nerven für einen Auslandsaufenthalt besitzt. Ein Geschichtsprofessor rechnete mir vor, dass ein Student nach Erfüllung der Bologna-Anforderungen noch eine Stunde pro Woche dem Lesen eines Buchs widmen kann.

Vergessen wir doch einfach die Sache mit dem Lesen. Dank modernster RFID-Technologie kann bald die Packungsbeilage jedes Grippemittels als Hörbuch herausgebracht werden. Vergessen wir überhaupt diese ganzen vertrödelten, ökonomisch nicht zu legitimierenden Geisteswissenschaften. Das würde gewiss auch zur Vermeidung von Kopfschmerzen beitragen. Lassen wir die protestierenden Studenten für die Bachelor-Prüfung fleißig mit dem Wadenwickel üben. Dann ist bald endgültig Schluss mit Aufmüpfigkeiten aller Art. Wo steht denn überhaupt geschrieben, dass es auf die inneren Werte ankomme? Es gilt doch längst eine viel simplere Weisheit, die niemand mehr anzuzweifeln wagt: Hauptsache, wir sind gesund. Juli Zeh ist Schriftstellerin und Juristin. Zuletzt erschien ihr Essay "Angriff auf die Freiheit", den sie zusammen mit Ilija Trojanow verfasste.


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